zum Neuen Jahr: ‚RWE und der Wald…‘ -das Märchen vom Braunkohleausstieg-

Es war einmal ein Wald…

… im Herzen Europas. Er begann zu wachsen, nachdem das Eis, das über 100.000 Jahre weite Teile des Kontinents bedeckt hatte, geschmolzen war. Er wuchs und wuchs und breitete sich aus. Damals, vor 12.000 Jahren, war der Wald in Mitteleuropa noch allein. Wirklich allein? Nein, es lebten viele Wesen darin, einige von ihnen können wir heute nicht einmal mit Namen versehen. Sie waren da, bevor die ersten Menschen kamen…

In Südeuropa begannen die Menschen, sich als Bauern nieder zu lassen und in Dorfgemeinschaften zusammen zu leben. Sie rodeten Bäume, um Platz für den Feldbau zu schaffen und hielten Vieh. Sie bauten Hütten und stellten gemeinsame Regeln auf.

Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland gab es vor rund 6.000 Jahren die ersten menschlichen Bewohner. Am Anfang schlugen sie Lichtungen in die grüne Baumdecke, um dort Hütten, Äcker und Weiden zu errichten, später verbanden sie ihre Siedlungen durch Wege miteinander. Manche Dörfer wuchsen zusammen und es wurden Städte daraus. Die Wälder wichen zurück und wurden zu mehr oder weniger großen Inseln und Flecken zwischen Feldern und Flüssen, Städten und Dörfern.

Einer von ihnen war der Wald, von dem heute noch ein winziger Rest übrig ist ….  der Bürgewald.

Der geschichtlichen Überlieferung nach hatte der heilige Arnold von Arnoldsweiler diesen Wald den umliegenden Dörfern geschenkt, weil die Menschen, die dort wohnten, so arm waren. Der Bürgewald war so groß, dass viele Dörfer ihn nutzen konnten. Sie jagten darin und holten sich das Holz, das sie für ihre Häuser und Möbel und Öfen benötigten. Sie stellten gemeinsame Regeln dafür auf und hielten sich daran. Im Laufe der Zeit bekam jedes Dorf ein bestimmtes Waldstück zugeteilt. Die Waldstücke wurden nach den Dörfern benannt – es waren 28. So konnten die Waldbewohner in Frieden leben, wenn sie nicht gerade gejagt wurden.

Anfang des 20. Jahrhunderts mussten die Waldbewohner zusammenrücken, denn 5 der Waldstücke wurden von den Menschen abgeholzt. Warum sie das taten, ist nicht bekannt. Vielleicht musste der eine Wald weichen, weil eine neue Fabrik gebaut werden sollte, in der nützliche Sachen hergestellt wurden. Vielleicht musste der andere Wald weichen, weil ein reicher Holzhändler den Dorfbewohnern viel Geld für die Baumstämme geboten hatte oder weil sie Platz für ihre neuen Häuser wollten.

Im Jahr 1978, vor nicht einmal 40 Jahren, wurde der ganze Wald, der jetzt „Hambacher Forst“ hieß, in einem Stück von allen Dörfern verkauft, die ihn besaßen. Sie bekamen sehr viel Geld dafür.

Einige der Dorfbewohner waren dagegen, denn der Wald sollte abgeholzt werden und die Erde, die darunter lag, abgetragen, sodass am Ende ein riesiges Loch, das mehrere Hundert Meter tief und viele Kilometer groß war, entstehen würde. Einige Dörfer sollten gleich mit in dem Loch verschwinden. Aber weil der Wald nur Stück für Stück über viele Jahre hinweg verschwinden sollte und sie mit dem Geld Kindergärten, Schulen und Spielplätze für ihre Kinder bauen konnten, dachten die meisten von ihnen nicht an das, was erst in der Zukunft geschehen würde.

Der Käufer war RWE, ein großes Unternehmen, das elektrischen Strom herstellte und verkaufte. Es grub das Land mit Baggertürmen auf, die fast 100 Meter hoch sind, das ist so hoch wie 58 Menschen, die auf den Schultern des jeweils anderen stehen oder dreimal so hoch wie ein zehnstöckiges Haus.

Jeder Bagger hatte einen langen Arm aus Eisen, an dessen Ende ein riesiges Schaufelrad, das fast halb so groß war wie der Bagger selbst, sich drehte. Von weitem sahen die Schaufelräder aus wie kreisförmige Sägeblätter, die unaufhörlich den Erdboden aufsägten und ihn abbaggerten.  Der abgebaggerte Boden war brennbar und braun, er hieß Braunkohle. Die Braunkohle wurde in riesigen Mengen auf Förderbändern transportiert, hin zu großen Kraftwerksöfen, wo sie verbrannt wurde. Der Strom, der dabei entstand, wurde in die Städte, Dörfer und Fabriken verkauft, wo er Glühbirnen erleuchtete und Geräte und Maschinen antrieb. Das brachte dem Energieunternehmen großen Gewinn. Weithin konnten die Menschen ihre Häuser beheizen, elektrische Geräte betreiben und weitere Geräte erfinden, die ihnen das Leben leichter und bequemer machten. Aus dem verkauften Hambacher Forst heraus konnten die Waldbewohner sehen, in welch großen schmutzigen Wolken giftiger Dampf aus den Kraftwerksschloten aufstieg. Wo die Erde einmal aufgegraben war, erstreckte sich ein braunes Gebiet mit Abraumhalden, Pfützen und Schlammpfuhlen, auf dem kein Gras stand, kein Vogel zwitscherte und kein Baum mehr wuchs.

Jedes Jahr im Herbst, wenn die Blätter bunt und golden an den Zweigen hängen, wurden die Waldbewohner, zu denen Eichhörnchen, Fledermäuse, Haselmäuse, Füchse und Spechte gehören, aufgeschreckt.

Der Grund war das durchdringende Geräusch von Traktoren und großen Rodungsmaschinen, die mit einem Mal einen ganzen Baum abschneiden und wegheben können, sowie das Dröhnen von Kettensägen, die einzelne Arbeiter des Energiekonzerns an die kleineren Bäume und Äste ansetzten. Mit lautem Krachen stürzte Baum für Baum zwischen seinen noch dastehenden Nachbarbäumen um, sodass deren Wipfel zitterten, und wurde abtransportiert. Manch ein Baumbewohner, der dort saß, musste sich festhalten oder schnell in einem Astloch verschwinden.  Sobald er sich am Boden befand, musste er davonspringen oder -fliegen, wenn er es zwischen all den Maschinen und Stiefeln noch konnte. Die Bäume wurden samt ihren Wurzeln weggetragen. Die verbleibende Erde, in der sie und ihre Vorfahren seit tausenden von Jahren gewachsen waren, sah schwarz und verwüstet aus. Sie sollte bald von dem großen Baggerturm mit seinem Kreissägenschaufelrad abgefräst werden, wegtransportiert und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Die übrig gebliebenen Waldbewohner zogen sich zwischen die restlichen Bäume zurück.

Dreizehn Mal wurde der Hambacher Forst von den Arbeitern und ihren Maschinen heimgesucht und seine Bäume gerodet, das waren dreizehn Herbste, in denen die Tiere flohen und den Pflanzen nichts anderes blieb, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Ein Viertel des Waldes war weg, an seiner Stelle war nun das große Loch, das der Baggerturm gefressen hatte, und aus dem die Kreissägenschaufeln die braune Kohle abtrugen.

Da begab es sich, dass einige Menschen in einer weit entfernten Stadt in einer Behörde, die damals noch nicht viel Einfluss hatte, aufschrieben, was alle Menschen, die in Europa wohnten, tun sollten. Sie stellten eine Liste mit allen Tieren und Pflanzen zusammen, die geschützt werden sollten. Alle Orte, an denen diese Tiere und Pflanzen wohnten, sollten binnen 12 Jahren ebenfalls auf eine Liste gesetzt werden. Die Menschen jedes Landes sollten diese Orte besonders achten und bewahren, damit die Tiere und Pflanzen darin überleben konnten.

Weil viele Menschen von dieser Behörde noch nie etwas gehört hatten, stimmten alle, die damit zu tun hatten, zu. Außerdem glaubten sie, dass das, was die Behörde aufgeschrieben hatte, nur eine Empfehlung war. Das Schriftstück hieß „FFH-Richtlinie“. „FFH“ heißt Flora-Fauna-Habitat, was soviel bedeutet wie „Lebensraum für Pflanzen und Tiere“. Im Hambacher Forst lebten damals sehr viele Waldbewohner, deren Familien auf der Liste der „FFH-Richtlinie“ genannt wurden. Damit hätte der Wald von den Menschen beschützt werden müssen.

Aber die meisten Menschen dachten nicht an den Hambacher Forst und seine Bewohner, als sie die Liste der besonders zu schützenden Gebiete aufstellten.

Sie erlaubten dem Energiekonzern sogar, weitere 25 Jahre den Hambacher Wald abzuholzen und die Erde abzutragen. Die Erlaubnis wurde „Zweiter Rahmenbetriebsplan 1996 -2020“ genannt. Sie wurde erteilt, als es die „FFH-Richtlinie“ schon seit drei Jahren gab. Andere Menschen wollten die Erlaubnis nicht, sondern stattdessen den Wald beschützen. Aber es hieß, dass sie nicht für die Tiere und Pflanzen sprechen dürfen.

Weitere zwölf Herbste kamen und gingen, in denen der Hambacher Forst weiter abgeholzt wurde, in denen die Tiere flohen und sich, wenn es der Platz erlaubte,  unter die Bäume zurückzogen, die noch da waren. Es war nur noch die Hälfte des Waldes da und es lebten weniger Tiere darin.

Inzwischen hatte ein Gericht, das weit weg in einer ausländischen Stadt war und von dem viele Menschen bislang noch nicht viel gehört hatten, entschieden,
dass die Empfehlungen der Behörde, von der bis dahin viele noch nicht viel gehört hatten, von den europäischen Ländern befolgt werden mussten.

Das bedeutete, dass die seltenen Tiere und Pflanzen, die auf der Liste standen, wirklich von den Menschen geschützt werden sollten, die um sie herum wohnten.

Das Gericht entschied ausserdem, dass Menschen auch für Tiere und Pflanzen sprechen dürfen. Denn die Tiere und Pflanzen können es nicht selber tun.

Da bemühten sich noch mehr Menschen, den Wald zu beschützen. Aber es waren immernoch sehr wenige und die anderen hörten nicht auf.

Die Menschen in den Behörden und Gerichten, die in der Nähe des Waldes und der Braunkohletürme waren, entschieden sich dafür, die Braunkohle weiter abzutragen und zu verbrennen und die Bäume weiter zu fällen. Manche sagen, dass sie dafür von dem Energiekonzern RWE bezahlt wurden, denn er konnte den Strom für viel Geld verkaufen.

Aber in Wahrheit wollten alle, denen der Energiekonzern gehört, und alle, die für ihn arbeiteten, und die meisten derjenigen, die den Strom kauften, nur an ihren Gewohnheiten festhalten.

Sie glaubten nicht, dass man ihre Häuser auch auf andere Weise beheizen und ihre Geräte und Maschinen mit Strom betreiben kann, der auf andere Weise hergestellt wird. Sie wollten keine Veränderung in ihrem Leben, denn etwas ändern zu müssen, davor hatten sie Angst. Sie glaubten, dass sie ihre Familien vielleicht nicht mehr würden ernähren können und dass sie die Erwartungen derjenigen, die von ihnen abhingen, enttäuschen würden, wenn die Braunkohleöfen nicht mehr gefüllt werden.

Sie glaubten nicht, dass sie etwas verändern können, ohne die anderen Menschen zu enttäuschen.

Sie glaubten nicht an sich selbst.

Weitere acht Herbste lang  stand der Hambacher Forst mit seinen Bewohnern allein da und wurde Stück für Stück gerodet und die Erde darunter von dem riesigen Baggerturm und seinem Kreissägenschaufelrad abgefräst. Es war nicht einmal mehr ein Viertel davon übrig.

Die meisten Tiere waren verschwunden. Sie hatten nur noch wenige Kinder in dem kleinen Waldstück zur Welt gebracht,  wenige Fledermäuse, wenige Haselmäuse, wenige Füchse und wenige Spechte, die zwischen den dreihundert Jahre alten Stieleichen und Hainbuchen zuhause waren. Und diese wenigen Kinder der einst so zahlreichen und unterschiedlichen Waldbewohner fühlten sich allmählich sehr verlassen.

Unter den Menschen, die um den Hambacher Forst  und das riesige Loch, das die Baggertürme in die Landschaft hinein gefressen hatten, herum lebten und auch unter denjenigen, die weiter weg wohnten, aber von dem schönen alten Wald und seinem traurigen Schicksal gehört hatten, waren jetzt immer mehr, die es nicht für richtig hielten, dass der Wald verschwinden sollte.

Der giftige Dampf, der aus den Braunkohlekraftwerkschlöten ausstieg, enthielt besonders viel Kohlendioxid.

Das ist ein Gas, das die Erde immer wärmer machte, sodass an vielen Orten der Welt kein Regen mehr fiel und nichts mehr wuchs, sodass die Menschen dort nichts zu essen hatten. Es sorgte auch für viele Unwetter und Stürme, die viel stärker waren als früher, und die Häuser und Felder zerstören.

Und da sagten diese Menschen:  „Es kann nicht richtig sein, Bäume zu fällen und Braunkohle zu verbrennen, wenn es doch dadurch auf der Welt immer schwerer wird, zu leben. Auch wenn die Menschen, in deren Ländern kein Regen mehr fällt und die von den Stürmen geplagt werden, weit weg wohnen, es ist doch auch unsere Welt und wir müssen ihnen helfen. Eines Tages sind die Stürme auch bei uns und eines Tages fällt vielleicht auch bei uns kein Regen mehr.“

Eines Frühlingsmorgens kam eine Gruppe von Leuten mit kleinen Lastwagen und Traktoren an, die Anhänger zogen. Darauf lagen viele Holzbretter und Werkzeuge, Sägen, Hämmer und Nägel.

Sie suchten sich schöne Bäume mit breiten Kronen aus und fingen an, darin zu bauen. Erst entstanden flache Bodenflächen, dann kamen die Wände und dann die Dachabdeckungen. Es wurden Baumhäuser. Die Eichhörnchen, die Mäuse und Hamster, sie schauten neugierig. Das hatten die Waldbewohner noch nicht gesehen: Menschen, die in den Wald zogen, um darin zu leben. Kein Baum wurde gefällt, kein Strauch entfernt und kein Weg mit Asphalt oder Kies befestigt. Die Menschen wechselten sich ab, jede Woche kamen andere hinzu, manche gingen wieder, andere blieben länger oder richteten sich dauerhaft ein. Sie redeten miteinander, sie bauten zusammen und waren fröhlich. Sie teilten ihr Essen und bekamen viele andere Menschen zu Besuch, die ihnen nützliche Dinge brachten und sich erzählen ließen, was hier vor sich ging.

Abends setzten sich diejenigen, die in den Baumhäusern übernachteten und diejenigen, die außerhalb des Waldes zu Bett gehen würden, aber noch ein paar Gespräche mitbekommen wollten, um ein kleines Feuer zusammen. Sie erzählten, wer sie waren, wo sie herkamen und dass ihnen der Hambacher Wald am Herzen liegt. Sie teilten ihre eigenen Sorgen und Hoffnungen mit und diskutierten darüber, wie es mit der Welt weitergehen soll. Und da wurden sie von den Waldbewohnern nicht mehr nur neugierig beobachtet. Sie wurden auch von ihnen belauscht.

Als der Herbst einsetzte, glaubten alle, dass es den Baumbewohnern vergönnt sein würde, den Wald und die Häuser darin vor den Kettensägen, den großen Baumerntemaschinen und dem riesigen Baggerturm zu bewahren. Doch sie hatten sich geirrt.

Mit Hunderten Polizisten und Wachleuten kamen die Arbeiter des Energiekonzerns zwischen die Bäume, zwangen die Menschen von den bewohnten Bäumen herunter zu kommen und rodeten genau das Waldstück, in dem sich die Menschen eingerichtet hatten. Sie nahmen einzelne der Menschen mit, weil sie ihnen vorwarfen, dass sie sich gewehrt hätten oder dass sie Gegenstände des Energiekonzerns gestohlen oder kaputtgemacht hätten.

Nun glaubten die Waldbewohner, dass ihr Zuhause verloren sein würde. Die Menschen, die ihnen hatten helfen wollen, waren von den anderen vertrieben, gehauen und sogar mitgenommen worden.

Aber schon im nächsten Frühling kamen die Menschen zurück. Sie feierten Feste neben dem Hambacher Wald auf einer großen Wiese und bauten dort Hütten auf, die sie „Dorf“ nannten. Sie zogen neue Holzböden in besonders schöne Baumkronen und bauten daraus Behausungen. Und obwohl diese neuen Baumhäuser wenige Wochen später wieder von Polizisten und Arbeitern des Energiekonzerns weggerissen wurden, gaben die Menschen nicht auf.

Sie bauten wieder Baumhäuser. Sie bauten Mauern aus Ästen und Gegenständen auf den Zufahrtswegen, damit die Autos des Energiekonzerns nicht in den Wald gefahren werden konnten. Und jedesmal, wenn die Polizei und die Energiekonzernarbeiter kamen, um zu räumen und zu roden, waren noch mehr von ihnen da. Sie banden sich an Bäumen und Maschinen fest, damit es schwerer würde, den Wald zu zerstören.  Es kamen immer mehr Helfer dazu und im ganzen Land und sogar in anderen Ländern der Welt erfuhren die Menschen davon, dass der Forst für die Braunkohle gerodet werden sollte und sprachen darüber.

Und es geschahen seltsame Dinge:

Eine große Baumerntemaschine, die am Tag zuvor in den Wald gefahren worden war, war am nächsten Tag auf einmal kaputt.  Kettensägen funktionierten nicht, weil ihnen der Treibstoff fehlte. Polizisten fanden ihre Handys nicht und Markierungen an den Bäumen, die gefällt werden sollten, waren verschwunden. Die Polizei und der Energiekonzern versuchten, diejenigen zu finden, die das gemacht hatten, aber es gelang ihnen nicht. Sie dachten, es seien die Menschen, die in den Baumhäusern wohnten, gewesen und so schickten sie jedesmal mehr Menschen, Fahrzeuge, Scheinwerfer und sogar Hubschrauber, um den Widerstand, der aus dem Wald kam, zu brechen.

Aber sie irrten sich. Zwar gab es unter den Menschen, die dem Wald helfen wollten, auch welche, die Steine auf fahrende Polizeiautos warfen – was man wirklich nicht tun sollte, denn d
abei können diejenigen, die im Auto sitzen, verletzt werden oder sogar sterben – aber die meisten von ihnen waren friedlich.

Und abends, wenn sie am Lagerfeuer saßen, diskutierten sie und versuchten herauszufinden, wer die Steine geworfen hatte und warum. Sie sprachen auch darüber, dass es gefährlich sei, so etwas zu tun, und auch irgendwie nicht richtig.  Da kam es vor, dass der eine oder die andere wütend wurde und auf die Polizisten und die Wachleute, die schon so viele von ihnen gehauen und mit Pfefferspray zum Weinen gebracht hatten, schimpfte und laut verkünden wollte, es sollten noch mehr Steine geworfen werden. Doch jedesmal in so einem Moment musste sich der- oder diejenige plötzlich am Ohr kratzen oder ganz laut niesen, sodass er nicht mehr mitreden konnte und die anderen, die dafür waren, sich passiv und friedlich zu verhalten, sich in Ruhe unterhalten und Musik machen konnten.

Wer hat die Maschinen sabotiert?

Wer hat die Markierungen entfernt und die Handys der Polizisten versteckt?  Wer hat die Luft aus den Reifen der Radlader gelassen und wer war es, der in dem großen Loch, wo die großen Baggertürme die Erde abfräsen und die Braunkohle zum Verbrennen in die großen Kraftwerke schicken, Stromkästen angezündet hat? Wer war es, der bei einem der unbesetzten Baggertürme die Fahrerkabine angezündet hat, sodass sie vollständig ausgebrannt ist? Wer war es, der Stromleitungen gekappt hat, sodass die Braunkohleförderbahnen lange nicht funktionierten?  Und wieso war eines der Kohlekraftwerke eines Tages so kaputt, dass es nur noch mit 20 Prozent Leistung gefahren werden konnte anstatt mit einhundert?

Tja. Nun ist es  wohl an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.

In so einem jahrtausendealten Wald gibt es viel mehr, als das menschliche Auge sehen kann. Es gibt dort Bewohner, an deren Existenz nur noch diejenigen glauben, die entweder noch Kinder sind oder nie aufgehört haben, welche zu sein, auch wenn ihre Haare schon weiß, ihre Haut schon voller Falten und ihr Rücken von den Jahren gebeugt ist.

Das sind die Kobolde. Weil sie so schüchtern sind, haben sie sich viel Zeit gelassen und ersteinmal gelesen, was hier geschrieben steht, bevor sie in dieser Geschichte auftauchen.

Natürlich wohnen in einem alten Wald auch andere Wesen, Trolle, Elfen und Waldgeister.

Vielleicht sind Waldgeister so eine Art Kobold, aber einer, der sich nicht mehr sichtbar macht, weil das Energie kostet und er keine Lust mehr hat, zu essen und zu trinken. Nach vielen Jahren als Kobold hätte er vielleicht sterben und als Koboldkind zurückkommen können, aber dann hätte er von Anfang an alles neu lernen müssen. Waldgeister wollen ihr Wissen bewahren. Deshalb sitzen sie am liebsten auf den großen Ästen herum, betrachten das, was so geschieht, von oben und lernen dazu. Wenn ein Kobold besonders nett ist, dann erzählen sie ihm aus der Vergangenheit und geben ihm nützliche Tipps…

Die Kobolde wollen eigentlich in Ruhe leben und sich in die Angelegenheiten der Menschen nicht einmischen.

Sie sind außerdem klein und eher zum Scherzen aufgelegt, als zum Kämpfen.

Manchmal, wenn sie einander Geschichten und Witze erzählen, müssen sie so sehr lachen, dass sie sich nacheinander  damit anstecken und zusammen auf dem Boden herumkugeln.

Die Menschen erscheinen ihnen schon deshalb überlegen, weil sie viel größer sind als sie und weil sie so viele Dinge erfinden und bauen, mit denen sie die ganze Gegend um sich herum verändern. Das tun Kobolde nicht.

Kobolde wohnen im Wald, aber sie verändern ihn nicht.

Sie leben von Pilzen und Beeren und trinken Morgentau oder Quellwasser. Sie meiden es, Fleisch zu essen, denn davon bekommen sie kurze Arme, werden buckelig, und es wachsen ihnen Warzen mit Haaren darauf im Gesicht, ihre Stimmen werden tief und sie verlernen das Singen.

Kobolde töten keine Tiere. Würden sie das tun, wäre ihr Schicksal besiegelt:  Dann verwandelt sich ein Kobold in einen Troll.  Er wird über Nacht häßlich, schwerhörig und schwerfällig und vergißt, wer er ist und wer seine Angehörigen sind. Und weil er dann nichts mehr mit den Kobolden um sich herum anzufangen weiß, verzieht er sich zu den anderen Trollen in den tieferen Wald hinein, er „trollt sich“. Dort, weit weg von ihrer Familie, führen die Trolle ein recht trübseliges Dasein:  Sie braten sich Schlangen und Käfer über dem Feuer und wissen nicht, worüber sie miteinander reden sollen. Darum ist es auch die größte Angst einer Koboldmama, dass ihr Kind zum Troll werden könnte. Noch wenn es im Bauch der Mutter ist, spricht sie mit ihrem Kind darüber und sagt: „Du nicht!“.

Einer der wichtigsten Berufe unter den Kobolden ist der Augenarzt. Das liegt daran, dass die Augen der Kobolde besonders groß und rund sind. Sie wollen, dass sie klar und glänzend bleiben und fragen deshalb ständig nach Tinkturen aus Kräutern und Morgentau.

Kobolde beschäftigen sich normalerweise damit, ihr Essen einzusammeln, ihre Kinder aufzuziehen und zusammen zu sein. Ab und an befreit ein Kobold einen Schmetterling, der sich in einem Spinnennetz verfangen hat oder baut sich ein kleines Musikinstrument.

Kobolde sind erst mit fünfunddreißig erwachsen. Dann dürfen sie heiraten. Es gibt alte Kobolde, die meinen, dass man erst mit fünfzig wirklich ausgereift ist. Aber das ist auch kein Wunder, denn Kobolde werden 600 Jahre alt.

Als die Arbeiter des Energiekonzerns RWE begannen, den Hambacher Wald mit ihren großen Maschinen abzuroden, da taten die Kobolde, so wie die anderen Waldbewohner, das, was sie schon immer getan haben, wenn der Mensch die Natur zurückdrängt oder verändert:  Sie zogen sich zurück.

Und das taten sie jedes Jahr ein Stückchen mehr. Sie wurden traurig darüber. Aber schon ihre Eltern und Großeltern hatten ihnen gesagt, dass sie gegen die Menschen nichts tun können und dass die Menschen nicht auf sie hören würden. Denn einen Kobold kann man nur sehen, wenn er sich sichtbar macht und wenn man an ihn glaubt. Menschen glauben nicht an Kobolde. Deshalb tun Menschen einfach, was sie wollen und gestalten ihre Umwelt, wie sie allein es für richtig halten.

Und als von den vielen Kobolden, die den Wald einst bewohnt hatten, nur noch wenige übrig waren, da zogen auf einmal Menschen neben ihnen ein. Und als sie sahen und verstanden, dass diese Menschen den Wald erhalten wollten und die Tiere darin achteten und schützten und dass sie sich sogar verhauen ließen und immer wieder zurück kamen, da fühlten sie etwas, das sie zuvor noch nie empfunden hatten, wenn sie an die Menschen dachten: Freundschaft.

Und sie beschlossen, ihren Freunden zu helfen. Da sie unsichtbar waren, konnten sie den Polizisten Streiche spielen, sie konnten die großen Maschinen, mit denen der Wald zerstört werden sollte, lahmlegen und die Stromleitungen, die die Baggertürme mit Energie versorgten, durchtrennen. Sie hatten dabei kein schlechtes Gewissen, denn es ging ihnen darum, ihr eigenes Zuhause zu schützen – und das ihrer Freunde gleich mit. Sie hatten gelernt, dass man gemeinsam etwas erreichen kann. Das ließ den Mut in den Kobolden wachsen.

Die Zerstörung des Waldes war jetzt zwar noch nicht gestoppt, aber viel langsamer geworden.

Und wenn einer von den menschlichen Waldbewohnern abends am Lagerfeuer anfangen wollte, häßliche Worte zu sagen, so wie dass man die Polizisten und die Wachleute bewerfen und hauen sollte, dann kitzelten sie ihn am Ohr,  so dass er sich kratzen musste. Denn wer sich am Ohr kratzen muss, der kann nicht so laut schimpfen.

Fünf Jahre lang hielten die Waldbewohner und alle, die ihnen helfen wollten, zusammen.

Noch viel mehr Menschen erfuhren davon, dass der Hambacher Forst sterben sollte, obwohl die Braunkohle, die aus ihm gewonnen werden sollte, beim Verbrennen hochgiftig ist und für die Energieversorgung nicht notwendig ist.

Aber die Menschen hatten immer noch zuviel Angst davor, aus ihren alten Gewohnheiten auszubreche
n und etwas zu verändern. Sie trauten es sich einfach nicht zu. Und so kam es, dass das Gericht, das darüber zu entscheiden hatte, ob der Wald weiter zerstört werden durfte, obwohl die Nachfahren der Familien, die auf der Liste der zu schützenden Tiere standen, noch darin lebten, die Klage der Waldbefürworter zurückwies.

Das wollten sich diejenigen Menschen, die für en Wald vor Gericht gezogen waren,  aber nicht gefallen lassen. Noch am selben Tag warfen sie einen Briefumschlag  mit einem Antrag in den Briefkasten eines Gerichts, das weiter weg war als das erste und das mehr zu sagen hatte.

Und genau an diesem Tag geschah ein Wunder, das sich bis heute eigentlich kaum einer so richtig erklären kann:

Das höhere Gericht entschied, dass vorerst nicht gerodet werden dürfe, weil es ja doch möglich sei, dass in dem letzten Stück Wald noch Angehörige derjenigen Tiere überlebt hatten, deren Familiennamen auf der Liste standen. Es entschied, dass das Recht, das schon seit 25 Jahren galt und das eben doch mehr war als nur eine Empfehlung, tatsächlich anzuwenden ist.

Kein Mensch wusste, warum die Menschen in dem höheren Gericht so entschieden haben. Um so eine Entscheidung zu treffen, nämlich, dass ein Gesetz, das sagt, dass bestimmte Tiere und Pflanzen geschützt werden müssen, tatsächlich gilt, muss man vor allem eines sein:  zuversichtlich.

Zuversichtlich, dass es den Menschen gelingen wird, sich und ihre Gewohnheiten zu ändern, ihre Angst zu überwinden und selbst zu überlegen, wie es mit ihrem Dasein auf diesem Planeten weitergehen wird. Dass sie zusammenarbeiten und sich Lösungen ausdenken werden, die allen dienen.

Mit anderen Worten: Es gehörte mehr Zuversicht dazu, als alle Behörden und Gerichte und die Manager des Energiekonzerns in den Jahrzehnten zuvor gemeinsam aufgebracht haben.

Wie kam es zu soviel Zuversicht?

Vielleicht hatte sich einer der Kobolde unsichtbar gemacht und an dem Briefumschlag festgehalten, der in das höhere Gericht geschickt wurde. So war er vielleicht in das Richterzimmer gelangt, wo die Beratung abgehalten wurde. Und da zwei der Richter gerade Tee tranken, schüttete er möglicherweise in jede der Tassen zwei Tropfen einer Flüssigkeit, die die Kobolde zu sich nehmen, wenn sie eine depressive Verstimmung haben. Sie riecht schwach nach Lavendel. Das merkt ein Teetrinker aber nur dann, wenn er besonders aufmerksam ist.

Aber wie gesagt: Das wusste kein Mensch.

In dem Jahr, das auf diese Entscheidung folgte, passierte ganz viel:

Das höhere Gericht wendete das Gesetz an und befand, dass es nicht darauf ankommt, wieviel Wald noch übrig ist, sondern wie er war und wieviele Tiere in ihm gelebt haben, als das Gesetz, das eben doch mehr als nur eine Empfehlung war, vor 25  Jahren erlassen wurde.

Und weil keiner mehr wusste, wieviel mehr seltene Tiere und Pflanzen damals in dem Wald existierten, und das nur daran lag, dass der Energiekonzern jedes Jahr mit seinen großen Baggertürmen den Wald gerodet und die Erde weggefräst hatte, gab das Gericht den Waldbefürwortern, die die Tiere und die Pflanzen schützen wollten, Recht.

Und es befand, dass jeder, der meinte, dass die Probleme auf dem Planeten Erde nicht lösbar seien, erst einmal eine Tasse Tee trinken solle.

Der Hambacher Wald bzw. das, was von ihm noch übrig war, durfte stehen bleiben. Der Energiekonzern wurde dazu verpflichtet, den Wald wieder anzupflanzen, die Erde wieder aufzuschütten und genau solche Bäume dort zu pflanzen, wie sie dort vorgekommen waren und heute noch zu finden sind.

Und weil das höhere Gericht soviel Zuversicht bewiesen hatte, folgten auch andere Menschen, die bislang mutlos und ohne Selbstvertrauen gewesen waren, diesem Beispiel:

Die Politiker, die darüber zu entscheiden hatten, ob die Braunkohlekraftwerke in Deuschland abgeschaltet werden, fanden heraus, wie es sich genau bewerkstelligen ließ, die Menschen mit Energie zu versorgen, ohne Braunkohle dafür verbrennen zu müssen.

Dann sprachen die Politiker mit den Energiekonzernen und setzten bei ihnen durch, dass sie die Braunkohlekraftwerke abschalten und ihre Unternehmen umbauen, damit sie trotzdem Menschen mit Energie versorgen. Sie ließen sich nicht auf Atomstrom ein und entwickelten einen Fahrplan auch dafür, wie auf die Verbrennung der Steinkohle verzichtet werden kann.

Der Energiekonzern, der den Hambacher Wald Stück für Stück gerodet hatte, übertrug das Land an diejenigen Menschen, die in den Baumhäusern wohnten bzw. dort wohnen wollten. Jeder, der dort wohnen wollte, durfte sich künftig ein Baumhaus dorthin bauen. Aber es durfte kein Baum gefällt und kein Strauch entfernt werden, es gab keine versiegelten Wege und keine Gräben oder Leitungen im Boden. Wer im Wald wohnen wollte, musste sich an die Natur und die anderen Waldbewohner anpassen. Manchmal hingen Socken, die ein Waldmensch auf seine Wäscheleine zum Trocknen gehängt hatte, plötzlich beim Nachbarn im  Baum… damit konnten sie leben. Vielleicht haben sie sogar eines Tages die Kobolde mit eigenen Augen gesehen. Aber die Waldmenschen erzählen davon nichts. Sie sind sehr schweigsam, was das betrifft.

Weil so viele Menschen vom Hambacher Wald erfahren hatten, war ihnen auch bewusst geworden, dass es überall auf der Welt  zuwenig Bäume gibt und dass die Wälder immer kleiner werden.

Und da fingen sie an, selbst Bäume zu pflanzen.

Die einen holten Baumsetzlinge aus dem Wald, wo sie nicht genug Platz zum Großwerden hatten und pflanzten sie dort ein, wo sie gut gedeihen würden.

Die anderen zogen Baumsetzlinge auf ihren Balkonen und in ihren Gärten und spendeten sie an Leute, die wussten, wo man sie hinpflanzen könnte und das auch taten.

Und weil die Menschen in Deutschland auf einmal so zuversichtlich waren und es geschafft hatten, dass sogar die großen Energiekonzerne sich ändern, wurden auch die Menschen in anderen Ländern mutig.

Sie taten das gleiche und forderten als nächstes die großen Lebensmittelkonzerne auf, es nicht zuzulassen, dass für ihre Produkte Regenwald gerodet wird.

Und auch die Lebensmittelkonzerne mussten sich ändern, weil auf einmal überall auf der Welt die Menschen aufstanden und für ihre Wälder und ihre Heimat und die Gesundheit ihrer Kinder das Wort erhoben und Präsenz zeigten.

Und das war erst der Anfang … der Anfang der Geschichte von der Rettung der Welt.

 

Und wer jetzt denkt:  „Das ist doch nur ein Märchen.“, dem sei gesagt:

Jedes Kind weiß, dass Märchen wahr sind.

von Franziska Weder

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u. eine „Erwiderung“ darauf von „Arnold von Arnoldsweiler